Der Ausblick vom 883 Meter hohen Greifenberg oder Gryffenberg wäre, wenn man nur ein paar Bäume fällte, grossartig. Der Blick umfasst den Alpenkranz von den Glarner Bergen über die Massive der Zentralschweiz und die Berner Viertausender bis hin zur Rigi und dem Pilatus. Auch der Zürichsee grüsst herauf.
Drei wichtige Gebäude prägen um 1870 das alte Bäretswil am Fuss des Greifenbergs: die Kirche, der neue Bären und die damals noch junge Fabrik Spörri. Auch unsere Gemeinde ist aus der Kirchgemeinde herausgewachsen. Das Christentum vermittelt Bäretswil von Anbeginn wichtige Grundwerte des Zusammenlebens, der Arbeitsethik und der grossen Lebensfragen. Der (neue) Bären von 1835 am Rand des Lindenplatzes markiert die neue, demokratische Politepoche seit den 1830er Jahren. Die Weberei schliesslich bringt ab 1858 vielen arbeitslosen Handwebern/innen den ersehnten Verdienst.
Und der Greifenberg selbst? Er wird auch Stollen (Felskuppe) genannt. Der ursprünglich mit Urwald bedeckte Berg wurde schon 745 mit der grossen Alemannen-Schenkung Eigentum des Klosters St. Gallen. In den Jahren um 1220 gelingt es dem Rapperswiler Hochadel, auf altem St. Galler Abteiboden die Burg Greifenberg zu errichten und eine Gerichtsherrschaft zu etablieren, die sie von St. Gallen als Lehen in Empfang nehmen. Damit erweitern die Rapperswiler Freiherren ihre Macht im Norden bis an die Töss. Am Nordfuss des Berges entsteht zur Versorgung der Burgleute der Sennhof «hinter der Burg», am Müetschbach (heute Neuthal) eine Mühle samt Sägerei. Der örtliche Ritteradel (Wolfensberg und Fehrenwaltsberg) der im 12. Jahrhundert beachtliche Rodungsarbeit geleistet hat, begibt sich nun ins Gefolge des Rapperswiler Hochadels. Auf der Burg residiert 1223 der Rapperswiler Freiherr Ulrich «von Gryffenberg». Der sagenumwobene Vogel Greif (Greifswald!) scheint Ulrichs Lieblings-Wappentier zu sein, denn wenig später lässt er auch das Städtchen Greifensee erbauen.
Die Zeit um 1220 mit dem Bau der stark verteidigten Burg wird für Bäretswil und seine Umgebung zur grossen Zäsur. Die Kirchen zu Adetswil und sehr wahrscheinlich auch zu Kleinbäretswil werden stillgelegt. Die Wappenswiler Kirche im Fehrenwald sinkt zur Kapelle herab, ihr Erhalt mag ein Zugeständnis an die Herren auf Fehrenwaltsberg sein. Bäretswil bekommt eine neue (steinerne) Kirche und wird zum Kirchort für das ganze heutige Gemeindegebiet samt der Tösswacht bis an die Flanken des Hörnlis.
So bewirkt der Einfluss der Rapperswiler Gerichtsherren auf Greifenberg zusammen mit der Kirche eine Territorialisierung unseres Gebietes. Es entsteht die Kirchgemeinde Bäretswil in ihren heutigen Grenzen plus die Tösswacht. Pfarrpfrund und Kirche in Bäretswil unterstehen dem St. Galler Ministerialgeschlecht der Landenberger.
An den wiederkehrenden Gerichtstagen im Frühling und Herbst auf dem Lindenplatz entsteht allmählich ein mündlich tradiertes Dorfrecht. Unter den Bauern, die sich jeden Sonntag in der Kirche treffen und besprechen, wachsen dörfliche Hierarchien. Die christliche Botschaft von der Gleichwertigkeit aller Menschen bleibt auch im Mittelalter nicht ohne Wirkung. In der «Gemeind» als der Urzelle dörflicher Politik treffen und formieren sich die Bauern gegenüber den Greifenberger Burgherren. Spätestens im 15. Jahrhundert (1475) erzwingen sie vom Gerichtsherrn die schriftliche Abfassung ihrer alten dörflichen Rechte in einer so genannten «Offnung». Mit der Verlesung dieser «Offnung» (d.h. des Dorfrechts) werden jeweils unter der Linde die Gerichtstage «eröffnet». Im Zug des 15. Jahrhunderts verarmt indes der Adel rapide. Gebhart, der letzte Hinwiler, stirbt 1507 hoch verschuldet. Im selben Jahr übernimmt sein Hauptbürge, der reiche einheimische Bauer Hans Bosshart im Städtchen Wil aus den Händen des St. Galler Abts die Gerichtsherrschaft Greifenberg, die sich von den südlichen Höfen Baumas bis ins Girenbad und von Adetswil bis nach Kleinbäretswil erstreckt. Lediglich die Bauern auf dem Allenberg gehören zur Gerichtsherrschaft Kempten, und vereinzelte Familien aus Kleinbäretswil unterstehen dem Kloster Schänis.
Auch in Bäretswil gerät die Burgherrschaft am Vorabend der Reformation und vollends durch die Bewegung der Wiedertäufer ins Wanken, weil nun auch bewegte Bauern anfangen, im Neuen Testament zu lesen. Bauer Hans Hofer aus dem Rüeggenthal weigert sich, dem Gerichtsherrn als Zeichen seiner Leibeigenschaft das jährliche Fastnachtshuhn abzuliefern. (Leibeigenschaft hat nichts mit Sklaverei zu tun. Wer z. B. einem Kloster oder einer politischen Herrschaft gehört, weil seine Vorfahren sich einst in deren Schutz begaben, ist etwa in seinen Heiratsrechten eingeschränkt und muss gewisse Taxen oder Frondienste entrichten. Leibeigene können aber unter den Herrschaften vertauscht werden. So lesen wir etwa über Hans Egli von Kleinbäretswil, dass er als Leibeigener vom Kloster Bubikon zur Herrschaft Altlandenberg wechselt).
Soweit die Gerichts-Herrschaften im Zürichbiet dem Staat gehören, entlässt die Regierung in den 1520ern gemäss Gutachten von Zwingli ihre Untertanen aus der Leibeigenschaft. Einzig den Bewohnern der Landvogtei Grüningen wird die Leibeigenschaft nicht erlassen – als Strafe für die Aufmuckserei im Zusammenhang mit der Wiedertäuferei. Da die Reformation nicht in Revolution ausmündet, werden die alten wohlerworbenen Rechte (auch von katholischen Klöstern wie Fischingen) nicht angetastet.
Erst durch die Französische Revolution von 1798 sinkt die private Gerichtsherrschaft Greifenberg in den Staub. Die Bäretswiler tanzen vor Freude über die gewonnene Freiheit. Sie holen in Grüningen eine Kanone und stellen sie auf den Lindenplatz neben den aufgerichteten Freiheitsbaum. In der Kirche wählen die Mannen Heinrich Stutz, einen Kleinbauern und Handweber aus Bettswil, zu ihrem ersten Gemeindepräsidenten. Der Erkorene ist nun einer von ihnen, der über den nötigen Leumund, ein gutes Mundwerk sowie über ausreichende Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügt. Im Freudentaumel will nun niemand mehr Steuern zahlen, geschweige denn eintreiben. Pfarrer, Vogt und Seckelmeister müssen sich ducken. Das Tafelsilber des Kirchenguts wird verscherbelt. Bald aber ist der Rausch vorbei. Niemand will mehr der verschuldeten Gemeinde vorstehen und mit eigenem Geld die öffentlichen Lasten bezahlen. Es folgt die Zeit der Helvetik und der Restauration.
1853 wird mit den Steinen der Burgruine das Tanner Schulhaus gebaut. 1851 und 1891 feiert Bäretswil auf dem Greifenberg die Jahrhundertfeiern des Standes Zürich und der Eidgenossenschaft mit rauschenden Festen und Freudenfeuern. Adolf Guyer-Zeller plant den Neubau eines romantischen Schlosses sowie eine touristische Seilbahn vom Bussental auf den historischen Berg. Er bittet Pfarrer Julius Studer, den Verfasser der ersten Bäretswiler Chronik, ein Festspiel abzufassen. Doch der Tod des Romantikers und Financiers (1899) vereitelt diese Pläne. Heute verunmöglicht die starke Bewaldung die prächtige Rundsicht. Nur der Burggraben und die Plateaus auf dem Gipfel sind noch sichtbar und zeugen von vergangener Herrlichkeit.
A. Sierszyn, Dez. 2021