Jakob Stutz – Der Brand von Uster

Der Brand von Uster oder: die Folgen verabsäumter Volksaufklärung

Brand von Uster
Titelblatt zum Brand von Uster zu den Gemälden aus dem Volksleben
Titelblatt Der Brand von Uster von Jakob Stutz
Gemälde aus dem Volksleben
nach der Natur aufgenommen und treu dargestellt
in gereimten Gesprächen Zürcherischer Mundart
von
Jakob Stutz

Der Brand von Uster

oder:
die Folgen verabsäumter Volksaufklärung
in Wort und That
Ein Zeitgemälde

Vorwort[1]

«Die Nachsicht und Zuneigung, womit das verehrl. Publikum meine “Gemälde aus dem Volksleben” aufnehmen wollte, ermunterte mich zu neuen Versuchen in dieser Gattung von Darstellungen. Kein Vorgang in unsern bewegten Zeiten ergriff so tief mein Innerstes, wie eben der traurig berühmte Brand von Uster. Als mir die Namen der Gefangenen, ihre Heimatsorte, ihre Äusserungen und Handlungen näher bekannt wurden, da traten mit nie geschauter Lebendigkeit die Bilder meines Jugendlebens vor meine Seele. Manchen, der nunmehr mit Ketten klirrend an mir vorüber wankt, sah ich als harmlosen Knaben spielen, hörte ich als lebensfrischen Jüngling jauchzen, und es durchzuckte schmerzhaft mein Herz, wenn diese sonst so gutmüthigen Menschen als böswillige Verbrecher beurtheilt wurden. Lange hing ich in Gedanken dem unheilvollen Ereignisse nach, und immer klarer erkannte ich die Beweggründe, welche zu der strafbaren Handlung hintrieben. Zum innigsten Mitleid gesellte sich der Wunsch, meinen unglücklichen Heimatsgenossen, wenn nicht Hülfe, doch einigen Trost zu gewähren, und zwar dadurch, dass ich versuchte, einem grössern Theile des Publikums die Überzeugung beizubringen, es seien die Verurtheilten keine gemüthsverdorbene Bösewichte, sondern Menschen, die unter irrigen politischen Ansichten, unter Misskennung der industriellen Verhältnisse und unter banger Furcht vor der Zukunft – eine That begingen, die ihnen als gerecht und nothwendig vorkam, die aber schon dem geläuterten Verstande, noch mehr dem strengen Gesetze als grobes Verbrechen erscheinen musste. Indem ich nun den Quellen des Uebels nachgespürt, reiheten sich mehre Generationen jenes Bergvölkleins vor meinem Blicke; treulich gab mir die Erinnerung Bericht über die Lebensweise und die Denkart derselben in verschiedenen Epochen. Die schaffende Phantasie hatte hier Nichts zu bewirken. Ich beschäftigte mich nur mit lebendiger Auffrischung früher aufgenommener Bilder. So erhielt ich ein Gemälde von Wahrheit, und die vorliegenden Schilderungen dürfen keineswegs als Gebilde der Poesie gelten. Wo die Gegenstände einen poetischen Anstrich haben, da kommt derselbe aus der Lebensansicht und Handlungsweise jenes Völkchens selbst her.

Viele Aeusserungen, die in diesem Gemälde vorkommen, sind wortgetreu aus dem Munde der Vorgeführten; manche der handelnden Personen sind ganz nach dem Leben gezeichnet. Wie sehr ich auch meinen Landsleuten mit herzlicher Liebe zugethan sei; ich habe nirgend auf Kosten der Wahrheit sie zu erheben gesucht. Dann aber muss ich auch mit eigentlichem Abscheu die Zumuthung von mir weisen, als wollte ich der ländlichen Einfalt spotten, als könnte ich zur Belustigung des Publikums meine Heimatsgenossen der Lächerlichkeit Preis geben.

Wenn eine meiner Hauptabsichten bei Herausgabe vorliegender Blätter darauf gerichtet ist, den vom Unglück Betroffenen mildere Beurtheilung und wohl auch tröstende Theilnahme zu verschaffen; so geht eine andere Hauptansicht darauf hin, heilsame Belehrung zu verbreiten und dies einerseits unter meinen nähern Landsleuten selbst, anderseits aber unter denjenigen, die auf das Schicksal dieser Leute Einfluss üben mögen. Lieblich kommen uns die Zeiten vor, da die Völker in kindlicher Einfalt, gleichsam im Stande der Unschuld, ihre Tage verlebten; aber „Alles hat seine Zeit und seine Stelle in der Welt.“ Wer nunmehr glaubt, auch in unsern Verhältnissen sei jene Zeit schuldloser Unwissenheit wünschbar und erreichbar, der scheint uns in grossem Irrthume befangen. Nur wenn die Ausbildung gleichmässig mit der industriellen und völkerschaftlichen Entwickelung fortschreitet, kann sich ein glücklicher Zustand gestalten. Da kommen wir auf die Hauptquelle des Unglücks bei Uster: es ist die unglaubliche Versäumniss, die im Schulwesen Statt gefunden hatte, und die den lächerlichsten Vorurtheilen und Ansichten Raum gab. Leute, welche meinen, die Welt habe da ein Ende, wo der Gesichtskreis die scheinbare Gränze bildet, können mit Sicherheit annehmen, dass mit Zerstörung von zwanzig künstlichen Webstühlen die Handweberei überall erhalten werden möge. Wer von einem geschichtlichen Entwickelungsgange der Menschheit nie die leiseste Spur erhalten, und somit die Dauer eines Menschenalters als den längsten Zeitraum betrachtet, der kann unmöglich ermessen, welchen mächtigen Veränderungen die Verhältnisse von Zeit zu Zeit unterliegen. Mache man die untern arbeitenden Klassen mit der Erdkunde, mit der Geschichte bekannt, und die thörichten Ansichten werden bald verschwinden. Wahrlich die Bergländer des Kantons Zürich sind von guten natürlichen Anlagen keineswegs entblösst: Herz und Verstand sind empfänglich. Möge darum mit immer grösserm Eifer die Volksbildung gefördert werden. Alsdann müssen Wahn und Trug weichen, und nicht mehr werden Rohheit und Unwissenheit über so viele Familien namenloses Unglück verbreiten. Schliesslich drücke ich noch den Wunsch aus, es möge Niemand Anstoss nehmen, wenn hie und da etwas derbe Scherze in der Darstellung vorkommen; solche Ausdrücke sind nun einmal in dem Gemälde nicht zu vermeiden. Ferne wäre von mir der Gedanke, Jemand eine Kränkung zuzufügen; ich wollte unterhalten, trösten und belehren. 

Zürich im März 1836. Der Verfasser.»

Grossmutter, Mutter, Madlee, Vreeneli, Nöggli, sitzen im Kreis herum und spinnen (ca 1807)
Nöggli (Sohn):
Ih wött doch gern wenn auch de Felix chäm
Und wieder so erzähle wor,
Vo Here, Gspeistre-n- und vom Jüngstetag.
Mutter:
Ich wött jetzt gern er wär diheime, denn
Er schwätzt doch mängsmol schier wie lätz im Chopf.
Die heilig Schrift verstöhnd er, hä-n-ih ghört;
D’Offebahrig Johannis chann
Er schier ganz usse, das ist wohr.
Wie wohl, er meint sich aber auch därmit,
Und das ist doch all weg nüd recht;
Und thuet mängs mol die grösste Schwöhr.

Brand von Uster, 1. Auftritt[2]

siehe auch Theateraufführung der Schuljugend von Bettswil mit 3 Szenen aus dem Werk bei der Schulhauseinweihung Bäretswil 1952 (Festschrift S.62-71)

Anmerkung: Jakob Stutz kannte den Haupt­angeklagten, Felix Egli vom Rellsten, persönlich.

Die brennende Fabrikanlage von Westen
Lithographie von G. Werner
Die brennende Fabrikanlage von Westen Lithographie von G. Werner
Fabrikantenwohnung und Fabrikanlage 2022

Der Brand von Uster – ich wollte unterhalten, trösten und belehren

Das Werk, das Jakob Stutz selber ein Gemälde nennt, hat die Züge eines Dramas, auch wenn die Einheit von Ort, Zeit und Personen etwas weit gefasst sind.
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Erstausgabe von 1836 und zeigen die Länge der Kapitel.)

  • Die Orte sind vorwiegend Wohnstuben in der Umgebung des Felix vom Rellsten, Bäretswil. Der Rellsten Felix kommt in vielen Szenen vor, meist als Gast in den Wohnungen von Nachbarn, aber auch in seiner eigenen.
  • Beim Namen genannt werden Orte am Tag des Usterbrandes vom 22. Nov. 1832, wo sich die Männer auf den Weg nach Uster machen (S. 155f): Burgholz (Greifenberg), Thal, Hinderburg, Hohlestei, Buessethal, Tanne und natürlich Bäretschwyl.
  • Keine der Szenen spielt in Uster. Es wird über die Vorkommnisse nur berichtet.
  • Die Zeit erstreckt sich von 1807 bis Silvester 1832, eingebettet in historische Ereignisse, die Mediationsverfassung von Napoleon 1803, die Restauration ab 1813 und die Regeneration 1831. Der Grossvater nennt immer wieder den «Bonipardi» und die «Reväluzion» (Juli Revolution von 1830).
  • Die «Erste Zeit – Die Spinnstube» ist «Ungefähr um’s Jahr 1807» (Mediation). Da wird noch in der Stube gesponnen, der Rellsten Felix berichtet aber bereits von der Gefährdung ihres Broterwerbs durch die aufkommenden Spinnmaschinen.
  • Die «Zweite Zeit – Die Webstube» ist «Um’s Jahr 1814» (Restauration) (S. 57ff). Ort ist nun die Webstube. Die Umstellung vom Spinnen auf’s Weben ist gelungen. Auch wenn die Lebensqualität durch den Lärm des Webstuhls und die Enge abgenommen hat, geht es wirtschaftlich gut.
  • Die «Dritte Zeit – Fabrikantennoth» ist «Um’s Jahr 1824» (S. 83ff). Bemerkenswert ist, dass die Weber mit ihren Webstühlen – so auch der Rellsten Felix – als Fabrikanten bezeichnet werden. Die Heimarbeiter sind alle verschuldet und wissen nicht, wie sie ihre Hypotheken und Steuern bezahlen sollten. Sie überlegen sich, wie sie die Regierung von ihrer Not unterrichten und um Hilfe bitten könnten.
  • Die «Vierte Zeit – Zerstörungswuth» spielt «Vom Jahr 1830 bis 1832» (Ustertag bis Usterbrand, Beginn der Regeneration) (S. 111-248). Die Szenen widerspiegeln die historischen Ereignisse.
    • Felix berichtet über die Einführung der ersten Webmaschine in Uster (S. 113)
    • Der Ustertag vom 22. Nov. 1830 wird besprochen (S. 118)
    • Am ersten Ustertag (S. 124)
    • Am Abend des Ustertags mit grosser Hoffnung auf Freiheit und Menschenrechte (S. 130)
    • Zwei Tage später. Die Regierung rüstet sich mit Kanonen gegen das aufmüpfige Land (S. 136)
    • Einige Zeit später, die Lage hat sich für die Landbevölkerung nicht verbessert. Diese erwartet von der Regierung vor allem das Verbot von Webmaschinen. Der Tod von «Burgermeister Usteri» (Paul Usteri, + 9.4.1831) wird bedauert. (Usteri ist der einzige namentlich genannte Politiker – ausser «Bonipardi») (S. 141)
      Bedeutungsvoll ist aber der Suizid von «Weid Hans Jörrli» in Bauma. Die Bevölkerung verhindert in ihrem Aberglauben die Bestattung auf dem Kirch-Friedhof gegen den Willen der Regierung und trotz Truppenaufgebot. Dieser Sieg gegen die Regierung wird von der Bevölkerung fatalerweise falsch interpretiert – sie glaubt, auch den Kampf um die Webmaschinen gegen die Regierung gewinnen zu können. Die Reaktion darauf ist die unverhältnismässige Bestrafung der Beteiligten am Usterbrand.
    • Ein paar Tage später. Thema ist die Bestattung in Bauma (S. 145)
    • Am 22. Nov. 1832. Felix und die Sinnesgenossen ziehen nach Uster (S. 155)
    • In der Wohnung des Grossvaters. Die Kunde vom Usterbrand kommt an. Es folgt viel Klagen und Wehgeschrei (S. 159)
    • In Greetlis Wohnung. Greetli muss sich von ihrem Ehemann Heiri trennen. (S. 185)
    • In der Wohnung des Grossvaters. Nöggli wird von Landjägern aus dem Haus abgeführt (S. 194).
      Das Bild dieser Szene ist am Anfang der Erstausgabe eingebunden (siehe Bild oben).
    • Ein paar Tage später. Die Grossmutter stirbt. (S. 211)
    • Die Sylvesternacht 1832 (S. 223). Der Grossvater und die Seinen gedenken der grossen Not des verflossenen Jahres. Ein Fremder, bei Dunkelheit und Nebel verirrt, wird gastlich aufgenommen. Er nennt die Ursache des Unglücks beim Namen: Unwissenheit gepaart mit Nahrungssorge[3]:
      • Nun fragt es sich: Wie soll der Geist
        Denn syne Nahrung, syne Pflege finde?
        Grossvater, das chann einzig nur
        Durch angemessnen gueten Unterricht,
        In Schuel und Kirche müglich syn.


        Cha mä nüd helfe – cha mä doch mängsmal
        Ein tröste – n – und belehre – n – über diess
        Und das, und ‘s wird Eim liechter oft um ‘s Herz.

Der Fremde outet sich als Schulmeister von Lichtenau, der seine Schüler Himmel und Erde kennen lehrt.

Es mag aus heutiger Sicht schon erstaunen, wie sehr die Beteiligten die Schuld bei sich selber sehen und wie sie ihren Trost im Glauben finden. Vor allem der Grossvater weiss zu allem noch einen Bibelspruch aus dem Alten Testament. Diese Empfindungen, das Klagen und Sühnen, zieht sich nahezu durch die letzten 100 Seiten des Werkes. Dass am Schluss wie aus dem Nichts der Schulmeister von Lichtenau aufkreuzt und sie aufklärt, wirkt wie ein Nachgedanke des Autors, der sich dann auch im Vorwort wieder findet. In seiner Autobiographie Sieben Mal sieben Jahre[4] bekennt er, wie gerne auch er Eltern gehabt hätte, die sich ihm gegenüber wie Lienhard und Gertrud von Pestalozzi verhalten hätten.[5] [6] Sein Glaube an die Bildung und in das neue Schulwesen sind unerschütterlich (vgl Einführung des neuen Schulwesens 1833). Jakob Stutz selbst, von 1827 bis 1836 Unterlehrer in der Blindenschule Zürich (die Zeit, in der er den «Brand von Uster» geschrieben hat), hat viel Wert darauf gelegt, mit neuen Unterrichtsmethoden seine Schüler besser zu bilden. Und es ist naheliegend, dass Jakob Stutz, der Lehrer an der Blindenschule, sich selbst als den Lehrer von Lichtenau sieht, der trösten und belehren will.

Jakob Stutz, Thomas Scherr und die Schulreform im Kt. Zürich

Jakobzelle auf der Matt im Sternenberg

Sein Mundartwerk «Der Brand von Uster» schrieb Jakob Stutz noch in der Zeit als Unterlehrer der Blindenschule in Zürich, wo er von 1827-1836 wirkte und wo er die Verurteilten, die er zum Teil persönlich kannte, in “ihren Ketten klirrend an sich vorbeiziehen sah”. Nachdem er später – zwei Mal wegen seiner Homosexualität verurteilt – sich für ein Einsiedlerleben in die Matt bei Sternenberg zurückzog (1841-1856), um in der Abgeschiedenheit seinen Seelenfrieden zu finden, kam er in seiner Autobiografie «Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben» wieder auf seine Zeit an der Blindenschule und den Brand von Uster zu sprechen (publiziert 1853-55)[7].
(Die Matt verlor aber bald ihre Einsamkeit. Ein Dichterkreis scharte sich um Jakob Stutz und sein Haus in der Matt wurde zur «Jakobszelle» und ist auch 1900 auf der Landkarte noch so bezeichnet.)

Thomas Scherr, 1. Direktor des Lehrerseminars Küsnacht
Thomas Scherr, 1. Direktor des Lehrerseminars Küsnacht

Um 1826 erlebte Jakob Stutz eine glückliche Zeit, hatte er doch freien Zugang zum Pfarrhaus seines ihm wohlgesonnenen Pfarrers Schweizer in Wila und durfte dessen Bibliothek benutzen. Aber schon 1827 empfahl ihn Pfr. Schweizer seinem Bekannten Thomas Scherr, der damals die Blindenschule in Zürich leitete. Ungern verliess er die Berge (sic!) und wurde am 18. März 1827 Lehrer an der Blindenschule. Scherr war ihm Freund und Lehrer zugleich, von ihm erhielt er die pädagogischen Impulse und die Ermunterung, sich weiterhin literarisch zu betätigen. Im Frühling 1831 erschien anonym die erste Sammlung seiner «Gemälde aus dem Volksleben». Im selben Jahr wurde sein Mentor Scherr als Erziehungsrat in die Kantonsregierung und ein Jahr später, 1832, zum Direktor des neu gegründeten Lehrerseminars Küsnacht gewählt. Es war die Zeit der grossen Schulreform, der Einführung der «Volksschule» im Kanton Zürich, und dies war nicht möglich, ohne die Lehrer selbst richtig auszubilden, wozu denn auch das Lehrerseminar gegründet wurde.[8]
(Tragik der Geschichte: Scherr, dem der Kanton so viel zu verdanken hat, wurde beim Züriputsch 1839 auf wiederholte Forderungen von Heinrich Gujer[9] hin von konservativen Kräften als Seminardirektor abgesetzt!)

«Als nun das zürcherische Schullehrerseminar zustande gekommen war und Herr Scherr als Direktor an dasselbe gewählt wurde, riet er mir sehr wohlmeinend, dass ich ins Seminar kommen und dem Lehrerberuf für Vollsinnige widmen möchte, dann erst könnte ich selbstständig werden und einst einen eigenen Herd aufrichten; hier in der Anstalt werde mir das nimmer möglich sein. Wie gerne hätte ich seinem Rat gefolgt, wäre es ihm nur möglich gewesen, mir auch einen andern Sinn und ein anderes Gemüt zu geben, überhaupt ein inniges Streben nach diesem allem in mir zu wecken. Aber mein Gott, wenn ich an das Seminar, an die Lehrer, an die vielen Zöglinge, ans Examen usw. dachte, wurde es mir gerade so bang wie einst beim Gedanken ans Militär und an die Garnison…»

Bemerkenswert auch hier, wie stark Jakob Stutz selber erst in diesen Jahren und wohl vorwiegend während des Schreibens vom «Brand von Uster» zur Einsicht kam, wie notwendig Bildung und Aufklärung für die Landbevölkerung war:

«Der traurig berühmte Brand von Uster am 22. November 1832 regte meine Phantasie von neuem zum Dichten auf und zwar in dem Mass, wie ich es noch nie empfunden hatte. Bisher war ich immer noch der Ansicht, wir könnten auch ohne Webmaschinen ganz gut existieren; diese seien nur da, um das arme Volk zu knechten und die Fabrikherren immer reicher zu machen. Ja, ich glaube, wäre ich an jenem Unglückstag in Uster gewesen, so hätte ich in meiner Unwissenheit vielleicht an der Zerstörung jener Fabrik Teil genommen, so gut wie andere. Fassliche und gründliche Belehrung wurde mir erst zu Teil, als das Unglück geschehen war; daher drang jenes Ereignis mir so tief zum Herzen, und das Unglück der Betreffenden, das musste ich oft fühlen, als ob’s mein eigenes Unglück wäre. Und darum tat es mir oft so weh, wenn die so hart Verurteilten in ihren Ketten klirrend an mir vorüber gingen, ich manche derselben als brave und ehrliche Leute kannte und sie von rohen Karrenziehern, versoffenen Holzscheitern und Wasserträgern als Halunken, Gauner u. dgl. beschimpfen und verspotten hörte. Da erst wurde mir klar, wie die meisten Leute in der Stadt das Leben und die Zustände der Bergbewohner ganz irrig auffassen und heute noch über diesen wichtigen Punkt nicht ganz im klaren sind.»

Und neues Leben blüht aus den Ruinen[10] [11]

1816 bauten Corrodi & Pfister die erste Spinnerei auf einem Felsvorsprung am linken Ufer des Aabaches.
1825 wurde ein neues grösseres Spinnereigebäude gebaut (Übrigens mit gütiger finanzieller Unterstützung von Heinrich Kunz).
1829 Trümpler & Gysi beteiligten sich zu 1/3 an der Firma Corrodi & Pfister mit einem Societätsvertrag.
Gleichzeitig übersiedelte Julius Trümpler-Schulthess von Zürich nach Uster – in das Wohnhaus an der Aathalstrasse, wo er dann zusehen musste, wie «sein Werk» zerstört wurde.
(Übrigens: Das heutige Wohnhaus an der Aathalstrasse wurde als Spinnerei gebaut und wahrscheinlich mit einem Göpel betrieben. Mit der Nutzung der Wasserkraft mittels Wasserrädern stellte man fest, dass das Gebäude auf der «falschen Seite» des Tales stand. – Hans Jakob Schellenberg hat allerdings 1822 in Aathal seine Spinnerei auf dieser Seite aufgestellt, musste dafür aber einen langen Oberwasserkanal bauen.)
1830 wurden zur Überprüfung der Rentabilität die ersten Webstühle im obersten Stock des Spinnereigebäudes installiert, was zu Empörung bei Heimwebern führte.

Nach der Zerstörung der Fabrik beim «Usterbrand» 1832 wagte es vorerst im Zürcher Oberland kein Unternehmer mehr, in eine Webmaschinen Fabrik zu investieren. Caspar Honegger, der die Produktion von Webmaschinen in Rüti plante, zog es vor, seine Fabrik 1834 im schwyzerischen Siebnen zu bauen. Erst die Unruhen des Sonderbundkrieges 1847 zwangen ihn mit seinen Mitarbeitern, die Maschinen in einer Nacht- und Nebelaktion in die «Joweid» bei Rüti zu verschieben, wo die Firma als «Maschinenfabrik Rüti» geführt wurde.

Der Schaden für die Fabrikbesitzer in Oberuster war immens, da die Versicherung bei Schäden aus Revolten die Haftpflicht ablehnte. Erst 1835 machte sich die Familie Trümpler an den Wiederaufbau der Fabrik, die 1837 den Betrieb wieder aufnehmen konnte, allerdings ohne mechanische Webmaschinen. Die Firma konnte in der Textilbranche als Familienbetrieb mit vielen Auf und Ab bis Mitte der 1990er Jahre erfolgreich bestehen. Mit dem Ende der Textilproduktion, dem Generationenwechsel in der Familie und dem sorgfältigen Umbau der Fabrik zu Loft-artigen Gewerbe-, Büro-, Werkstatt- und Lagerräumen erlebt die Firma als «Trümplerareal» eine neue Blüte.

P. Bischofberger, 10.2.2021

Literatur

1 - Jakob Stutz: Gemälde aus dem Volksleben. Der Brand von Uster. F.Schulthess, Zürich 1836, Digitalisat e-rara
2 - Julius Studer: Die Geschichte der Kirchgemeinde Bäretswil. Zürich 1870, 4. Der Usterbrand
3 - Friedrich Ludwig Keller: Die gewaltsame Brandstiftung in Uster am 22. November 1832. 1833, Digitalisat
4 - Christian Brändli: Zürcher Oberländer. 14. Juli 2010, Bäretswiler steckten den «Satan» in Brand

Einzelnachweise

[1]Jakob Stutz: Gemälde aus dem Volksleben. Der Brand von Uster. F.Schulthess, Zürich 1836, Vorwort
[2]Jakob Stutz: Gemälde aus dem Volksleben. Der Brand von Uster. F.Schulthess, Zürich 1836, S.7
[3]Jakob Stutz: Gemälde aus dem Volksleben. Der Brand von Uster. F.Schulthess, Zürich 1836, Schlusskap. S.231ff
[4]Jakob Stutz: Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben. Als Beitrag zu näherer Kenntnis des Volkes.. 5 Bände, Zwingli Pfäffikon (Neuausgabe: Huber, Frauenfeld 1983; 2. Auflage 2001, ISBN 3-7193-1264-X) 1853-55, Digitalisat
[5]Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud. 1781, Pestalozzi Verein: Werk und Digitalisat
[6]Jakob Stutz (auch er schrieb einen Erziehungsroman!): Lise und Salome - die beiden Webermädchen. Verlag von Meyer und Zeller, Zürich 1847, Digitalisat
[7]Jakob Stutz: Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben. Als Beitrag zu näherer Kenntnis des Volkes.. Henri Kunz, Pfäffikon ZH (Neuausgabe 1927) 1853-55, S.370-384, geschrieben als Memoiren in der Jakobszelle (1841-1856)
[8]Guggenbühl et al.: Die Zürcherische Volksschule 1832-1932. Verlag der Erziehungsdirektion 1933
[9]Bernhard A. Gubler: Züriputsch. Buchverlag der Druckerei Wetzikon AG 1989, Der «Züriputsch» in Schilderungen aus dem Bezirk Pfäffikon, S. 23
[10]Rico Trümpler: pers. Mitteilung. 13. Juli 2022
[11]Peter Ott: arbeiten und leben am Millionenbach. druckteam.ch, Wetzikon 2019, S. 82-89 (PBA.DOK1.228p)

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