Der Familienname Stössel ist – wie die Geschlechter Graf, Egli oder Meier – seit dem Mittelalter in der Gemeinde Bäretswil ansässig. 1419 wohnt Hermann Stössel auf dem Allenberg. Noch vor 1541 ziehen seine Nachkommen ins obere Rüeggenthal und begründen dort den alten Hof bei der Abzweigung der Strasse Richtung Sonnenhof. Ihrer Herkunft gemäss nennt man sie auch «Allenberger». Bereits in den 1590er Jahren wohnt ein Hans Stössel, zugenannt Allenberger, auf der Bäretswiler Gupf. Nach der Pest (1629) erscheint der Name auf der Waswies. Hier entfaltet sich der Name bis heute in der 13. Generation. Verschiedene Stössel auf der Waswies sowie Zweige dieser Familie haben im Lauf der Zeit in Handwerk, Gewerbe, Politik und Vereinen das Leben unserer Gemeinde, ja sogar der Schweiz, ganz wesentlich mitbestimmt.
Wohnsitzmässig treffen wir heute den Bäretswiler Namen auch in Zürich, Bern, Genf, Greifensee, Bonstetten, Brasilien, Venezuela, Zufikon, Feldmeilen, Dübendorf, Rüti/ZH, Bubikon, Gipf-Oberfrick, Mollis, Wallisellen, Malix, Kloten, Luzern,, Winterthur, Sarmensdorf, Berikon, Glattfelden, Islikon, Gränichen und Mosnang.
Die Bedeutung des Namens
Als Stössel bezeichnete man Leute, die mit einem «Stössel» arbeiten. Das ist ein uraltes Werkzeug zum Zerstossen von Kräutern oder Gewürzen in einem Gefäss. In der Pharmazie werden seit Jahrhunderten Stössel benützt. Auch in vielen Küchen kannte man früher den Stössel. Nahe verwandt ist auch der alte Beruf «Stösser», der Waren in Gefässe oder Säcke stösst. Dazu gehörten Kleinhändler wie Salzstösser. In Augsburg wird schon 1197 Gunther Stössere genannt. Der Name Stössel ist auch in Deutschland, vor allem im alten Schlesien (heute Polen), zu Hause. Das Zedler-Lexikon (Bd. 40, Jahr 1744) kennt die Stössel «als ein adeliches Geschlecht in Schlesien, welches vor etlichen hundert Jahren unter dem Namen Stoletto in der Insel Corsoca floriret und wegen seiner wider die Barbaren erwiesenen Tapferkeit von dem Kayser Barbarossa einen Mohrenkopf zum Wappen erlanget hat». Im 16. Jahrhundert werden Stössel auch in Kitzingen erwähnt. Hier ist der Name eine Berufsbezeichnung. Deutsche Stössel wandern nach Basel und vermutlich bis nach Genf, aber auch nach Wien und Graz und sogar bis nach Russland.
Auch der schweizerische Familienname könnte grundsätzlich eine Berufsbezeichnung aus dem 13. Jahrhundert sein. Wahrscheinlicher aber ist für unseren Raum ein Zusammenhang mit dem Flurnamen Stüssel oder Stoss. Der Stüssel in der Allmannkette wird schon 1465 als Grenzmarke genannt, wo die Herrschaften Grüningen und Kyburg «zusammenstossen». Als die Grenze zwischen Kyburg und Grüningen 1465 bereinigt wird, weiss Ueli Winterberg von Niderhittnau zu berichten, er habe «vom alten Hermann Stössel ab dem Allenberg gehört, dass der Swellenbach (Aabach) ze Beretswil die March sye». Bis dahin gehörten nur das Oberdorf und Wappenswil zu Grüningen, der Rest der Gemeinde war Herrschaftsgebiet der Kyburg. Die alte Vogtei-Grenze verlief von der Aabach-Brücke unterhalb der Gupf über den Schwellenbach bis hinauf zum Stüssel. (1465 wurde sie an den Staldenbach verlegt, zur Kyburg gehörten fortan nur noch Adetswil und der Hof). Ob Hermann Stössel 1465 noch lebt, ist nicht sicher. Als Zeuge und Informant hat er offenbar Gewicht. Auch der Bubiker Pfarrer Johannes Stumpf erwähnt 1548 in seiner Chronik der alten Eidgenossenschaft den Stüssel. Er schreibt: «Die wasserflüsslin in dieser wilde besambled sich under dem dorf Berenschwyl einstheils von Gryffenberg herfür, zum teil oben herab von Stüssel nebend Wapplischwyl, darauss wirt der ursprung der Aa…». So ist der Bäretswiler Stüssel zunächst ein Name für eine Grenzmarche. Stüssel heisst auch eine steile Stelle beim Atzmännig, oberhalb von Goldingen sowie ob der Langenegg in Mosnang.
Das Wort Stüssel ist aber auch verwandt mit Stoss. Dieser häufigere Name begegnet zum Beispiel beim Wilgupf östlich Baschlisgipfel, in der Gemeinde Wollerau sowie ob Brunnen-Ingenbohl. An diesen beiden Orten gehört der Name Stössel ebenfalls zu den alten Geschlechtern. Stoss/Stoos bedeutet steile Alpweide und ist verwandt mit Stutz. Noch heute sagt man, eine «Alp bestossen». Die Namen Stüssel, Stössel, Stoffel, Staffel und Stoss haben dieselbe Bedeutung, sie bezeichnen eine (steile) Weide. 1780 heisst unser Stüssel auch Stössel. Auch ein abgegangener Hof oberhalb Holenstein trägt im 19. Jahrhundert den Namen «im Stössel». Auch in den Kantonen Uri und Appenzell hat Stoss zudem die Bedeutung einer Landmarke, was in Bäretswil auch für den Stüssel zutrifft.
Der Bäretswiler Stüssel bezieht sich indes nicht nur auf den Stüsselchopf (1051m), sondern auf ein ganzes Stück der Allmannkette. Die Flurbezeichnung erstreckt sich bis in die Gegend Lee/Kleinbäretswil – Lehstüssel, Hüttenstüssel, Stüsselweid – sowie in Richtung Holenstein und Chappelen. Die Bewaldung des Allmanns ist schon im Spätmittelalter spärlicher als heute. Im Stüssel treffen sich die Weiden von Wappenswil, Lee und Kleinbäretswil. Im Unterschied zu Deutschland ist in den genannten Fällen der Name Stössel eher nicht eine handwerkliche Berufsbezeichnung, sondern er stammt vom Flurnamen Stüssel/Stoss. Der erste Bäretswiler Vertreter mit dem Zunamen «Stössel» muss mit dem Stüssel oder dem Weidebetrieb dort oben irgendeine Beziehung gehabt haben. Dasselbe dürfte für die Stössel von Wollerau/Höfe und Ingenbohl gelten, die dort auch zu den Urgeschlechtern gehören.
Bäretswiler Stössel von 1419 bis 1600
1419 ist Hermann Stössel zu Beroltswile einer der Bürgen für Dietrich Keller, der vom Kloster Rüti mit der Staldenbach-Mühle belehnt wird. Hermann Stössel gilt in Bäretswil damals als wohlhabend und vertrauenswürdig. Im Steuerverzeichnis von 1470 erscheint das Geschlecht als relativ zahlreich in der Gemeinde Bäretswil. Genannt werden:
- Uly Stössels wib, Cuonrat Stössel, sin wib
- Hans Stössel, sin wib, sin junckfrow
- Heiny Allenberg, sin wib, sin junckfrow
- Schnider Allenberg, sin wip
Alle vier Familien bezahlen eine für Bäretswiler Verhältnisse mittelgrosse Vermögenssteuer von 5-13 Schilling. Der alte Hermann ist 1470 nicht mehr am Leben.
Zwischen 1470 und 1541 verkaufen die Stössel den Allenberg an Familie Kunz und ziehen ins obere Wirzenthal. Dort gründen sie einen neuen Hof, der heute Christoph Spörri gehört. Das Pfrundurbar von 1541 nennt hier Jacob und Uly Stössel, zugenannt Allenberger. Gemäss den Angaben des Bäretswiler Taufbuchs, das 1590 beginnt, leben damals im Wirzental die Brüder Hans, Ueli und Benjamin, geboren um 1550/70. Sie sind Söhne eines Hermann Stössel, geb. um 1530, der vielleicht ein Urenkel des alten Hermann ist. Dazu wohnt ein Hans Stössel, genannt Allenberger, mit seiner Familie auf der Gupf in Bäretswil.
Vom Wirzental auf die Waswies
Bereits in den 1590er Jahren bewirtschaftet Benjamin Stössel aus dem Tal Teile der Waswies, die damals noch nicht bewohnt ist. Doch im Wirzental sterben fast alle Stössel-Söhne an der Pest. Fortan ist das obere Wirzental von den Tochtermännern Hans Meier-Stössel und Jakob Rüegg-Stössel besetzt. Das Wirzental wandelt sich in der Folge zum Rüeggental. Ein Jahr nach der Pest (1630) zieht der 22-jährige Uli Stössel aus dem Tal mit Barbara Pfenninger ab dem Waltsberg auf die Waswies, um hier das Land zu bewirten, das zuvor seinem Onkel Benjamin gehörte. Vermutlich bezieht er das neuere Haus, das bis zur Pest Hans Bachmann-Gnehm mit seiner Familie bewohnte. Für zwei Generationen teilt er die Waswies mit der Familie von Kleinhans Egli (Baschlis) ab der Mühle, die sich schon einige Jahre zuvor hier niedergelassen und die Seuche halbwegs überstanden hat.
Von den 18 überschaubaren Generationen seit Herrmann Stössel im Jahr 1419 wohnen bis heute 13 auf der Waswies. Der starke Waswies-Stamm treibt mehrere Äste:
A. Ueli Stössel, der Jung 1638. Zweige dieses Astes, teils handwerklich orientiert, verlaufen auf den Sandböhl, ins Oberdorf, ins Schürli und bis nach Winterthur, Islikon, Luzern, Mosnang, Genf und Brasilien. Der Schürlizweig betreibt im 19. Jahrhundert eine Seilerei und eine Wirtschaft.
B. Jakob (Jaggeli) 1701. Ein zweiter Ast führt von der Waswies wieder zurück ins Rüeggenthal, wo die Stössel als als Schulmeister und Weinschenk wirken. 1801 erwirbt Marx Stössel aus dem Tal das geschichtsträchtige Arzthaus auf der Linde und verwandelt das Gebäude in eine Bäckerei, ab 1840 zugleich Wirtschaft. Sein Sohn, Lindenwirt Hans Georg Stössel (1800-1873), ist von 1843-1856 und von 1860-1862 Gemeindepräsident.
C. Jakob Georg 1761. Ein dritter Zweig führt nach Vorderbettswil. Johannes Stössel (1837-1919) verbringt seine Jugend in bescheidenen Verhältnissen zu Vorderbettswil im Kleinbauernhaus an der Bettswilerstrasse 32. Die Schulgenossenschaft erkürt indes seinen geistig regen Vater zu ihrem Präsidenten. Schon als Hüterbub liest der aufgeweckte Junge alle nur möglichen Bücher, die er auftreiben kann. Bereits im Alter von 22 Jahren verteidigt er an der noch jungen Zürcher Universität sein juristisches Doktorat. Seine Laufbahn weist steil nach oben. 1869 wird er Statthalter des Bezirks Hinwil, 1873 Staatsanwalt, 1875-1917 Regierungsrat. Mit Ludwig Forrer gehört Stössel zu den bestimmenden Exponenten der demokratischen Bewegung, speziell auch im Zürcher Oberland. Näheres siehe im separaten Artikel zu Johannes Stössel.
D. Hans-Heinrich 1792. Den Anfang dieses Astes machen drei Söhne ab der Waswies.
- Schlosser Jacques Stössel (1813-1878) gehört mit Fabrikant Caspar Spörri zu den Pionieren der Bäretswiler Wasserkraft-Nutzung. Tragischerweise wird sein 26-jähriger Sohn 1869 von einer Turbine erdrückt.
- Hans Heinrich Stössel (1816-1891) ist Müller auf der Neumühle in der Stöck und Gemeindepräsident von 1862-1889.
- Kaspar Stössel (1832-1895) ist Lindenwirt und Friedensrichter. Sein erster Sohn Johannes wird Sekundarlehrer, Dr. habil. am Polytechnikum und Prorektor an der Höheren Töchterschule, Kantonsrat und Vizepräsident der Schulsynode. Ein zweiter Sohn, Heinrich, ist Bäcker und Wirt zur Linde, Zivilstandsbeamter, Hauptmann und Gemeindepräsident von 1912 bis zu seinem Tod 1925.
E. Jakob Stössel 1824. Dieser jüngste Ast, erzeugt von Jakob Stössel, beginnt auf der Waswies mit Alfred Stössel (1863-1947), Buchbinder und Schulhaus-Abwart in Bäretswil. Sohn Hans Werner Stoessel (Schreibweise oe), aufgewachsen in Bäretswil, ist Jugendsekretär des Blauen Kreuzes und Pfarrer in Lindau. Der kräftige Mann stirbt 1936 in jungen Jahren an den Folgen eines Ski-Unfalls (-> Brustfell- und Lungenentzündung im Anschluss an eine Knie-Operation). Er ruht neben Dekan Waser und Pfarrer Wolf an der Seite der reformierten Kirche. Seine Witwe, Gertrud Wüest aus Adetswil, erzieht ihre vier Kinder, u. a. Hansruedi Stoessel (Lehrer in Rüti) und Dr. Kaspar Stoessel (Adetswil).
In der Familie im Hauptstamm baut Jakob Georg Stössel 1813 im Hochzeitsjahr seines ältesten Sohnes Hans Heinrich das Stösselhaus ( Bettswilerstrasse 14 ) mit dem Dachbalkenspruch:
Gott behüte dieses Haus
Und die da gehen ein und aus.
Wer will bauen an die Strassen,
muss sich von jedermann tadeln lassen;
Aber dies ungeacht,
ich hab es nach meinem Kopf gemacht.
Nur 17 Jahre später errichtet sein Sohn Hans Heinrich das zweite Stössel-Haus (Bettswilerstrasse 16 / 18). Hans Heinrich ist mit 22 Jahren Gründungsmitglied des Männerchors Bäretswil (1835).
Jakob Stössel auf der Waswies (1824-1886) beginnt um 1860 die Fuhrhalterei, zunächst mit Stieren, dann mit Pferden. Jakob II. (1862-1941) ist ein ausgesprochen vielbegabter Unternehmer. Als Fuhrhalter gebietet er über zehn Rosse. Vier davon benötigt er allein für den Postdienst Bäretswil-Grüningen. In grossen Fässern holt er Jahr für Jahr Sauser im Weinland – auch für die Bäretswiler Wirte. Auch Brennholz und Baumaterialien gehören zu seinen Transporten. 1881 stellt sich der 19-Jährige dem jungen Turnverein Bäretswil als Gründungspräsident zur Verfügung. 1906 baut er am oberen Rand der Waswies eine private Wasserversorgung mit Mannesmann-Stahlrohren, an der noch heute etwa ein Dutzend Haushalte angeschlossen sind. Fünf Bar Wasserdruck erlauben dem fortschrittlichen Bauern und Unternehmer – gleich wie Albert Egli in Kleinbäretswil – durch eine Pelton-Turbine den Antrieb der Holzfräse, der Hafermühle, der Obstmühle, des Futterschneidstuhls und der Schleifmaschine.
Walter Stössel sen. (1896-1983) vollzieht die Umstellung auf Traktorzug. Die väterlichen Kutschen, die Chaise und der Rennschlitten samt Wärmepelz müssen allmählich dem modernen Taxidienst weichen. Ab 1931 gelangt ein moderner 6-Pätzer-Citroen zum Einsatz. Die bekannten Autonummern ZH 11’264 und 14’689 sind also seit über 90 Jahren im Einsatz.
Walter Stössel jun. (1926-2014), von klein auf mechanisch interessiert, erwirbt während des Weltkriegs bereits mit 17½ Jahren aufgrund eines Gesuchs von Feuerwehrkommandant Jakob Heusser den Führerschein. Das Landwirtschaftsland wird verpachtet. 1952 wird ein Getränke-Handel eröffnet. Um die Jahrhundertmitte ist Walter Stössel zugleich ein bekanntes Taxi-Unternehmen der Gemeinde. Güter werden nun mit Lastautos transportiert, die auch Erich in neuer Generation bis heute sicher und zuverlässig zu führen versteht.
A. Sierszyn, 5.1.2022