Dekan Hans Rudolf Waser, Pfarrer in Bäretswil von 1817-1874
Johann Rudolf Waser, 1.11.1790 – 7.8.1878, Bürger von Zürich, wird im alten Bäretswiler Pfarrhaus geboren. Nach Studien in Zürich und bei seinem gleichnamigen Vater in Bäretswil sowie nach Vikariaten im eigenen Dorf und in Oberwinterthur, wird er am 20. Juni 1817 als Nachfolger seines Vaters in der (alten) Bäretswiler Kirche als Gemeindepfarrer eingesetzt. Johann Rudolf Waser verbindet eine aufgeklärte Bildung der Zeit mit einem guten Verständnis für pietistische Strömungen, die zu seiner Zeit zumal das Oberland berühren. Schon sein Vater war ein aufgeklärter Theologe, der aber mit den Herrnhutern in der Burgweid in gutem Einvernehmen stand. Hinzu kommt eine klassische protestantische Arbeitsethik, verbunden mit zäher Strenge und väterlicher Güte, die dem jungen Waser ins Gesicht geschrieben sind. Sein Portrait hängt bis in die 1970er Jahre im «Chilestübli».
Waser leitet nicht nur während beinah 60 Jahren als Pfarrer und Stillstands-Präsident die bevölkerungsreiche Kirchgemeinde und dazu während Jahrzenten das Hinwiler Dekanat, mit ausgesprochener Treue verwaltet er auch als Zivilstandsbeamter wie die acht fehlerlos geführten Bücher auf dem Staatsarchiv mit Wasers kleinen und gleichförmigen Schrift verraten. Mit besonderer Kompetenz und tadellosem Erfolg leitet er auch die Baukommission von der Planung bis zur Vollendung der neuen Kirche und des Gasthofs zum «Ochsen» im Jahr 1827. Die vielen grossformatigen Bände im Kirchenarchiv zeugen von seinem Fleiss. Waser kann im Detail knauserig sein, behält aber doch stets den Blick für das grosse Ganze der Gemeinde. Auch die Protokolle der Kirchenpflege stammen von seiner Hand. Waser ist der ungekrönte Dorfkönig und Gemeindevater in einer Person wie es im 19. Jahrhundert noch etliche gibt. Man fragt sich, wie ein Einzelner zu solchen Leistungen fähig ist. Bei Waser ist es eine zähe Gesundheit und ein starker Wille, verbunden mit seinem aus Psalm 90 abgeleiteten Wahlspruch: «Das herrlichste im Leben ist Mühe und Arbeit». Ferien und Erholung kennt und braucht er keine. Beides ist zur damaligen Zeit ein Fremdwort. Als Gemeinde-Vater verkörpert Waser Autorität, Knowhow, Leistung, Fleiss, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung – eine Haltung, die der Mainstream von 2020 als «Ethik des alten weissen Mannes» beargwöhnt. Natürlich sind schon zu seiner Zeit vor allem die Bequemeren nicht nur glücklich mit ihrem Gemeindehirten. Bezeichnenderweise scheinen auch seine Frau und Familie in den Protokollen nirgends auf. Ein schlechter Ehemann oder Vater scheint Waser nicht gewesen zu sein; seine Kinder finden den Weg ins Leben. Im kritischen Jahr nach dem Züriputsch wählen ihn 1840 seine Gemeindegenossen in den Kantonsrat, was im konservativen Bäretswil als grosser Vertrauensbeweis zu verstehen ist. Aus Gründen der Arbeitslast lehnt Waser das Amt jedoch ab. Jahrelang leistet er sich am Samstagnachmittag im Ringwiler Anker jeweils ein Schöppchen. Dabei marschiert er gravitätisch, den Spazierstock mitunter quer im Rücken, durchs Oberdorf und über den Hinterberg. Niemand wagt es dann, ihn zu stören.
Ein etwas dunkler Zug seiner Persönlichkeit ist Wasers Fähigkeit, Menschen zu bannen. Der Weg zum Pfarrhaus ist zu seiner Zeit gesäumt mit dicht behangenen Pflaumenbäumen. Dann und wann versuchen grosse oder kleine Spitzbuben, diese Pflaumen zu stehlen. Als Waser das Treiben zu bunt wird, versteht er die Pflaumendiebe zu bannen. Samt ihrem Diebesgut müssen die Täter unter den Bäumen stehen bleiben, bis der Pfarrer sie von Bann löst. Diese heikle und nicht eben christliche Fähigkeit begegnet sonst besonders im 18. Jahrhundert bei okkulten Vertretern der Aufklärung. Der sonderbare Zug bleibt sein Geheimnis. Waser ist indes kein aggressiver Bibelkritiker. Als er 84-jährig die Zügel aus der Hand gibt, hilft er mit, dass Bäretswil mit dem frommen Adolf Naef, zuvor Vikar in Bauma, einen Nachfolger findet, welcher der Evangelischen Gesellschaft nahesteht und seine Arbeit fortführen kann.
Aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums seiner Ordination (1861) schenkt Waser seiner Gemeinde zehn silberne Abendmahlskelche samt zwei Silberplatten von Goldschmied Fries in Zürich. An diesem Jubeltag versammeln sich im Pfarrhaus Vertreter des hohen Kirchenrats, des Pfarrkapitels und alle Gemeindebehörden. Beim Klang der Glocken säumen sämtliche Schulkinder der Gemeinde zu beiden Seiten den Weg, als der Jubilar mit seinen illustren Gästen zur Kirche schreitet. In den ersten 44 Jahren seines Pfarramts hat Waser 4075 Kinder getauft (92/Jahr), 2580 Söhne und Töchter konfirmiert (58/Jahr), 2781 Ehen eingesegnet (63/Jahr) und 3715 Verstorbene verabschiedet (84/Jahr). Es folgen, unterstützt durch Vikare, noch 13 Jahre pfarramtlicher Dienst bis 1874/75. Einer seiner Vikare ist der Pfarrgehilfe Julius Studer. Ohne die reichen und präzisen Informationen, über die der damals 80-Jährige verfügt, wäre Studers Chronik 1870 nicht so lebendig und detailreich geworden. Bis ins hohe Alter von 85 Jahren schreibt er noch eigenhändig und klar die Pfarrbücher sowie das Zivilstandsregister, bis dieses ab 1876 gemäss neuem Gesetz durch Gemeinderatsschreiber und Bärenwirt Heinrich Dürsteler fortgeführt wird. Die drei letzten Jahre seines Lebens verbringt der Betagte bei Witwe Stössel in der Alten Post.
Armin Sierszyn, Okt. 2020
Literatur
1 - J. R. Waser, L. J. Schweizer: Unmassgebliche Ansichten über den Kirchenbau Bäretschweil. Friedrich Schulthess, Zürich 1829, Digitalisat
2 - Otto Schauflaberger: Zürcher Oberländer. 28.10.1974, Wie Dekan Waser sich zu wehren wusste